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Yves' Versprechen

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Yves‘ Versprechen

Dokumentarfilm von Melanie Gärtner
Deutschland 2019, 79 Minuten

Inhalt

„Lasst uns über Kamerun reden“

Tanger – die Hafenstadt im Norden Marokkos. Eine Gruppe junger Afrikaner und Afrikanerinnen diskutiert lautstark über ihre Zukunft: Sie streiten, ob es richtig war, aus Kamerun fortzugehen, hatten sich Marokko ganz anders vorgestellt. Kamerun – ihr Land sei doch reich an Holz, Bananen, Gold. Doch sie hätten nichts davon, müssten ihr Land verlassen, um woanders Arbeit und Auskommen zu finden. Nichts geht vor, nichts zurück. „Ich kann nicht mehr zurückkehren. Die Hoffnungen meiner Familie kann ich nur noch in Europa erfüllen“, sagt eine junge Frau resigniert. Die kurze Sequenz beschreibt auch das Dilemma, in dem der Kameruner Yves Kamkoumi steckt, dessen Geschichte der Film erzählt. Er hat sich selbst und seiner Familie, die in der kamerunischen Metropole Douala lebt, ein schwerwiegendes Versprechen gegeben: es im fremden Europa zu etwas zu bringen, um der Familie, die große finanzielle Sorgen hat, ein besseres Leben zu ermöglichen. Doch die Lage scheint ausweglos.
Sein erster Versuch vor einiger Zeit, in Europa legal einzuwandern, war gescheitert. Sein Asylantrag in Spanien war damals abgelehnt worden; die spanischen Behörden haben ihn nach Kamerun abgeschoben, erfährt der Zuschauer aus dem Off.  Kennengelernt hatte die Filmemacherin Melanie Gärtner den jungen Mann bei ihrem Vorgängerfilm, „Im Land dazwischen“, 2010 in der spanischen Exklave Ceuta. Yves war damals dort gerade im Auffanglager angekommen. Der Kontakt zwischen den beiden war nie ganz abgebrochen.

Aufbruch nach Europa

„Jede Nacht breche ich auf und hoffe, dass irgendwo noch ein Platz frei ist …“ (Yves Kamkoumi)

Die winzigen Schlauchboote, mit denen die meist jungen Männer die gefährliche Überfahrt von Afrikas Küsten nach Europa wagen, heißen Challenger oder Seahawk 4. Yves hat Melanie Gärtner informiert, dass er ein zweites Mal das Risiko eingehen will. Sie reist nach Marokko und trifft den inzwischen Mitte Dreißigjährigen in Tanger. Er wartet auf eine Gelegenheit, dass irgendwann ein Platz in einem der Boote frei wird. Zu diesem Zeitpunkt, 2015, ist er schon acht Jahre unterwegs, ruhelos, ohne Kontakt zu seiner Familie.
In einer späteren Szene sieht man, dass Yves unversehrt in Spanien angekommen ist, aber dort ein Leben im Ungewissen führt. Er hatte doch den „Geschmack Europas“ schon einmal gekostet. Er wusste, was auf ihn zukommt. Warum konnte er nicht in Kamerun einen Neuanfang wagen? In Bilbao fristet Yves, der viel Wert auf sein modisches Erscheinungsbild legt, das Leben eines Obdachlosen, schläft unter einer Brücke. Manchmal hört er Musik aus Kamerun in seinem Handy. Immer fürchtet er, dass er ohne Papiere erwischt wird und ihm die Abschiebung droht. Eines Tages greift ihn die Polizei tatsächlich auf, und er kommt ins Abschiebegefängnis C.I.E nach Madrid. Am Tag seiner geplanten Abschiebung weigert er sich, ins Flugzeug zu steigen. Sie lassen ihn laufen.
Zurückkehren nach Kamerun will er immer noch nicht: zu groß ist seine Scham gegenüber der Familie, Nachbarn und Freunden, versagt zu haben. Auslöser für Yves Entscheidung, seinem Land den Rücken zu kehren, war die Vergewaltigung seiner Tochter. Der Täter, ein einflussreicher Mann, der Vater eines Schulfreundes des kleinen Mädchens, war der Polizei bekannt, blieb jedoch unbehelligt. Aus Zorn und einem Gefühl der Ohnmacht gegenüber der korrupten Justiz hatte Yves den Mann verprügelt und war dafür ins Gefängnis gekommen. Yves‘ große Schwester Annie, die im Film eine wichtige Rolle spielt, musste ihn mit ihrem Ersparten freikaufen. Danach hat Yves sein Land verlassen – ohne Abschied zu nehmen. Zurück ließ er den kranken Vater, seine vier Geschwister und Freunde.

Austausch von Botschaften

„Warum konnte er in seinem Land nicht bleiben? Ich wollte es herausfinden“ (Melanie Gärtner)

Die Filmemacherin Melanie Gärtner übernimmt nach dem Treffen in Tanger die Rolle der Vermittlerin zwischen Yves, seiner Familie und Sylvain, dem besten Freund aus Jugendtagen. Auf ihrer ersten Reise nach Douala lernt sie alle kennen und dokumentiert Yves Leben, bevor er Kamerun verließ. Bei ihrem zweiten Besuch zeigt sie der Familie und Sylvain Videobotschaften, die sie mit Yves in Bilbao aufgenommen hatte.  Sie trifft Yves ein drittes Mal; dieses Mal in Madrid, wo er nach seiner Zeit im Abschiebegefängnis bei einem Freund in einem besetzten Studentenwohnheim untergekommen war. Im Gepäck hat sie Botschaften aus Kamerun für Yves, wieder vermittelt über ein Video auf dem Tablett. Und die Samen der Pflanze Kamkoumi, Namensgeberin für Yves, die der Vater Melanie Gärtner mitgegeben hatte. Die Ahnen sollen ihn beschützen!

Yves und seine Familie

„Alle haben Yves geliebt. Wenn du ein Problem hattest, war er da und hörte zu …“
(Ngansop Motuou Annie Lore)

Yves‘ große Schwester Annie ist eine starke Frau. Sie treibt die Sorge um das Wohlergehen der Familie um. Annie betreibt im Bafoussam im westlichen Kamerun einen kleinen Laden und ist „der Motor der Familie“. Als die Mutter mit 33 Jahren bei der Geburt des fünften Kindes starb und der Vater seine Arbeit in einer Zementfabrik verlor, verarmt die Familie und zieht aufs Land. Sie ernähren sich von der Ernte ihrer Felder. Später, als Annie mit 17 Jahren geheiratet hat, nimmt sie alle Geschwister bei sich in Douala auf.  Sie vermisst Yves, mit dem sie ihre Sorgen teilen konnte. Heute lebt der Vater im Dorf und bräuchte dringend medizinische Hilfe, die Brüder und die jüngere Schwester schlagen sich mehr recht als schlecht durchs Leben.
Christian, der jüngere Bruder, hat Probleme, sich zu orientieren und lebt fast so „wie ein Straßenkind“. Yves hatte ihm früher Halt gegeben, war sein Vorbild. Aber seitdem der Bruder fort ist, kommt Christian nicht mehr gut zurecht. Yves‘ großer Bruder, Megaptche Rostand, arbeitet am Busbahnhof in Douala für eine Reiseagentur. Sein Leben ist hart. Als er, stumm, die Videobotschaft seines Bruders anschaut, der sich bei ihm entschuldigt, nicht einmal bei der Nachricht des Todes seiner Nichte angerufen zu haben, spürt man, dass er sich von Yves im Stich gelassen fühlt. Rita, die kleine Schwester, fragt sich, warum Yves jeglichen Kontakt abgebrochen hat. Sie sehnt sich nach aufmunternden Worten des großen Bruders.
Sie alle vermissen den Bruder. Auch Sylvain Nquepnang, der liebevolle Freund, dem es „nicht im Blut liegt“ wegzugehen, macht sich Sorgen. Er spielt im Film ebenfalls eine zentrale Rolle. Er hatte einst mit Yves seinen Friseurladen geführt und hofft, dass Yves im fernen Europa sein Glück macht und dann zurückkehrt. Er macht sich keine Illusionen darüber, dass Ives ein hartes einsames Leben führt.  Er hat dort niemanden. Als er das Video mit der an ihn gerichteten Botschaft sieht, ist er gerührt: „Er hat mich nicht vergessen (…) Er betet noch zu Gott.“ Und er fragt sich, wer ihm wohl dort die Haare schneidet.

Wiedergewonnene Nähe

„Ich kann dir nicht alles erzählen, was mir auf meiner Reise widerfahren ist.“

Die Filmemacherin Melanie Gärtner reist mit Sylvain ins Heimatdorf Batuffa, wo Yves‘ Vater lebt.  Als einer der Ältesten ist Sylvain verpflichtet, einige Male im Monat im Dorf nach dem Rechten zu schauen. Die Ahnen wären sonst nicht zufrieden. So ist es Tradition bei der Ethnie der Bamilike, im Grasland Kameruns, deren Erbe Sylvain in sich trägt. Wie wird Yves‘ Vater auf die Botschaft seines Sohnes reagieren? „Du bist mein Herz. Du bist alles für mich.“ Yves verspricht wieder und wieder zurückzukommen, wenn er endlich Papiere hat, gibt aber in dem Video an den Vater zu, keine Arbeitserlaubnis zu haben und es noch nicht geschafft zu haben. Der Vater, der ihn auch jetzt bittet, ihm zu helfen, ist krank und fürchtet, bald zu sterben. Die Familie hinterlässt eine doppelsinnige Botschaft, die die Filmemacherin Yves in Spanien überbringt: Die Ahnen mögen Yves beschützen und ihm alles Glück der Welt bringen, aber sie machen auch Druck: „Wir zählen auf dich! Also streng dich an!“ Yves wirkt erleichtert, als er die vertrauten Stimmen hört und die Bilder sieht. Seinem Vater endlich sagen zu können, dass er „noch nicht klarkommt“, hat eine karthartische Wirkung: endlich kann er offen aussprechen, warum er sein Versprechen noch nicht eingelöst hat und er spürt, dass die Familie ihn liebt.
Nachklapp: Der Film endet 2015.  Kommentar der Filmemacherin, die Kontakt zu Yves hält: „Yves hat eine Fortbildung zum Klempner und eine zum Kellner gemacht. Er sucht jemanden, der ihn anstellt. Dann würde er eine befristete Aufenthaltsgenehmigung bekommen. Die schöne Nachricht ist, dass er jetzt eine Freundin hat. Sie kommt auch aus Kamerun. Immer wieder schöpft er neuen Mut. Das bewundere ich. Er will, wie jeder Mensch, aus seiner Geschichte eine gute Geschichte machen.“

Würdigung und Kritik

„Endlich wirft jemand einen anderen Blick auf ein Thema, das in den Medien so allgegenwärtig ist, wie Migration nach Europa. Melanies Neugier und ihre sehr persönliche Art, Geschichten zu erzählen, haben daraus einen bemerkenswerten Film gemacht.“ (Raul Nino Zambrano, International Documentary Festival Amsterdam 2017)

Der andere Blick? So wie in dem Vorgängerfilm „Im Land Dazwischen“ ist Melanie Gärtner, die Ethnologie, Literatur und Journalismus studierte, an der Einzigartigkeit der Menschen interessiert, die sie in ihren Filmen portraitiert. „Er hat mir viel erklärt, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, nicht zum Kern seiner Motivation vorzustoßen. Ich merkte, ich muss selbst nach Kamerun fahren, um seine Vergangenheit und Beweggründe auch wirklich nachvollziehen zu können“, sagt sie bei einer Filmvorführung. Auch die Migrationsgeschichte von Yves ist eng verwoben mit den Geschichten, Hoffnungen und Enttäuschungen seiner Familie und seines Freundes in der Heimatstadt Douala. Es gelingt dem Film, sich Yves als einer Persönlichkeit anzunähern, die tief in ihrer kamerunischen Herkunft, ihrem christlichen Glauben und seiner heimatlichen Kultur wurzelt. Yves übernimmt für sich und andere Verantwortung. Seine Geschichte führt dem Zuschauer vor Augen, dass der noch junge Mann keine andere Chance hatte, als fortzugehen, um nicht sein Ansehen zu verlieren. Zum anderen zeigt der Film auf behutsame Weise die Einsamkeit von Menschen, die in Europa landen und das Netz ihrer Familien und Freunde verlassen haben. „Yves‘ Versprechen“ erzählt vom Traum von einer besseren Zukunft und von der bitteren Erfahrung, dass es oft kein Zurück gibt. Selten gelingen solche Nahaufnahmen im deutschen Kino, die auf ebenso differenzierte wie berührende Weise von Migration erzählen.

Portrait einer kamerunischen Familie

Der Film zeigt, dass Migration nicht das Schicksal einer einzelnen Person ist und er zeichnet das Portrait einer kamerunischen Familie, die in der Tradition starker Gemeinschaftlichkeit der Ethnie der Bamilike im Westen Kameruns steht. Erwähnt wird, dass die Töchter, nachdem die Mutter früh gestorben war, hart auf dem Land gearbeitet haben, um die Ernährung der Familie sicherzustellen. Die Bedürfnisse des Einzelnen zählen im Familienverbund nicht viel. Das „Wir" ist wichtiger als das "Ich"; das Verhältnis der Jungen zu den Alten ist von Respekt und Gehorsam geprägt. Die Familienbande sind eng, das eigene Blut ist etwas Anderes, sagt Annie an einer Stelle.  Dass niemand weiß, wie es Yves‘ Tochter heute geht, ist ein gewisser Bruch im Selbstverständnis der Familie und von Pragmatismus geleitet. Die Mutter hat einen Mann in Uniform geheiratet. Die Familie will die Ehe der Mutter nicht aufs Spiel setzen. Mit einem „Mann in Uniform“ legt man sich besser nicht an.
Familienfotos an Wänden, in Alben und das gemeinsame Anschauen der Erinnerungen spielen eine große Rolle in dem Film. Die Fotos spiegeln die gemeinsame Geschichte der Familie, erzählen von schwierigen Tagen, aber auch von Hoffnung und Zuneigung. Die Charaktere der verschiedenen Personen sind gut herausgearbeitet. Der Film kommt seinen Personen nah, ohne sie vorzuführen. Die Kamera lässt sich Zeit, zeigt Innenansichten, verweilt auf den Fotos, die die Protagonisten Melanie Gärtner bereitwillig zeigen und sie gibt dem Erinnern und den Gedanken über Yves Zeit und Raum. Zum anderen zeigt die Kamera Szenen des Alltäglichen im öffentlichen Leben und macht so den sozialen und kulturellen Kontext deutlich, in dem die Menschen im Film sich bewegen.

Die Rolle der Filmemacherin

Wie hält er sein Leben aus? Warum meldet er sich nicht? In diesem von Zweifeln und Vermutungen geprägten Nachdenken über Yves‘ Leben in Europa greift die Filmemacherin unmittelbar ein: Sie verlässt die Rolle der Chronistin und schlüpft in die Rolle der Mediatorin. Dies bewirkt, dass sie die Geschichte des Films vorantreibt und die Familie wieder ins Gespräch miteinander kommt. Die Interaktion in Form der Videobotschaften bricht das Schweigen der Familie. Der dramaturgische Kniff schafft Authentizität und Unmittelbarkeit. Der Zuschauer wird intimer (aber auch unfreiwilliger) Zeuge der Gefühle (der Freude, aber auch der Hilflosigkeit), die die Botschaften auf dem Tablet beim jeweiligen Betrachter auslösen. Sie alle hören Yves‘ Botschaft, die sinngemäß lautet: ‚Ich habe euch nicht vergessen. Mir geht es gut, ich bin noch nicht so weit, dass ich mein Versprechen erfüllen und euch helfen kann.‘ Darin liegt die persönliche Tragik von Yves, aber auch ein gewisses Problem, das in der Filmdramaturgie angelegt ist: Der Zuschauer weiß mehr über Yves als dessen Familie. So werden die Zuschauerinnen und Zuschauer zu Beobachtern des Verlaufs einer stark vermittelten (und von der Regisseurin gesteuerten) Kommunikation zwischen Menschen, die sich nicht unmittelbar begegnen können. So können die Zuschauer die manchmal blumigen Botschaften Yves‘ realistisch einordnen. Die Familie kann dies nicht. Man fragt sich unwillkürlich, was passiert wäre, wenn sich die europäische Filmemacherin nicht in die Belange der afrikanischen Familie eingemischt hätte. Auf die Frage einer Journalistin, wie die Familie auf die Videobotschaft von Yves reagiert habe, antwortet die Filmemacherin in einem Gespräch, es sei „spannend“ gewesen, dass die Familie und sein bester Freund mit ihr, nachdem sie seine Videobotschaft gesehen hatten, auf eine ganz andere Art und Weise von ihm redeten, als vorher. Zuvor habe sein Freund im direkten Gespräch immer sehr liebevoll von Yves gesprochen. Aber seine Reaktion auf Yves‘ Video-Botschaft hatte dann einen ganz anderen Ton: „Dass er sich anstrengen und was tun soll für seine Familie.“

Der soziale Druck auf Yves

Yves hat als einziger aus seiner Familie eine längere Schulausbildung absolviert und auch die ihm zugedachte Rolle des Versorgers akzeptiert. Aber in Kamerun stehen die Chancen schlecht und Yves fragt sich, wie lange er und seine Familie noch unter so schwierigen Bedingungen leben sollen. Also macht er sich, wie so viele andere, auf, um sich, wie er sagt, „durchzuschlagen“ und in Europa Arbeit zu finden. Die Last der Verantwortung, die seine große Schwester Annie innerhalb der Familie übernommen hat, trägt er im Verhältnis nach Außen: Er muss sich anstrengen, es in Europa zu etwas zu bringen. Diese moralische Last, die sein Leben schon lange bestimmt, teilt er mit Abertausenden, die wie er ihre afrikanische Heimat verlassen, ins gelobte Europa wollen und dort häufig in prekären Verhältnissen leben.  Der soziale Druck auf Yves ist enorm groß. Er darf nicht versagen: „Yves kann nicht zurück. Selbst wenn es die nahen Familienmitglieder verstehen würden. Die soziale Ächtung ist für jemanden, der mit leeren Händen zurückkommt, so stark, dies kann man als junger Mensch nicht aushalten. Nach seiner Abschiebung vor ein paar Jahren war er sogar in der eigenen Stadt untergetaucht, um bloß nicht gesehen zu werden. Der Druck ist so stark, dass es Yves vorzieht, die Menschen, die er liebt, nicht wiederzusehen“, erklärt die Filmemacherin die schwierige Lage für ihren Protagonisten.

Hintergrundinformationen

Kamerun – Afrika im Kleinen

Lange Zeit galt Kamerun als Stabilitätsanker in einer instabilen Region. Doch seit 2016 ist das zentralafrikanische Land, das sich vom Atlantischen Ozean bis zum Tschadsee erstreckt, mit wachsenden Konflikten und zunehmenden politischen und gesellschaftlichen Spannungen konfrontiert. Ein erheblicher Reform- und Investitionsstau hemmt die Entwicklung Kameruns. Das Wirtschaftswachstum reicht nicht aus, um die Armut im Land dauerhaft zu verringern. Seit 1961 wird Kamerun von derselben Partei regiert. Präsident Paul Biya ist bereits seit 1982 Staatsoberhaupt, im Herbst 2018 wurde der 85-Jährige für weitere sieben Jahre im Amt bestätigt.[1]
Die wichtigste Säule der kamerunischen Ökonomie stellt die Landwirtschaft dar. Traditionelle „Cash Crops“ (landwirtschaftliche Erzeugnisse, die für den Export produ-ziert werden) sind Kakao, Kaffee, Baumwolle, Bananen, Kautschuk, Tee, Zuckerrohr und Palmöl.  Internationale Krisen und Schwankungen der Rohstoffpreise treffen immer wieder die kamerunische Landwirtschaft, z.B. die Baumwollproduktion, und haben damit direkte Auswirkungen auf die ländliche Bevölkerung. Die Kautschuk- und Teeproduktion liegt vollständig in den Händen von Agroindustrieunter-nehmen, die halbstaatlich oder mittlerweile privatisiert sind. Der Großteil der Nahrungsmittelproduktion liegt in den Händen von Kleinbauern und konkurriert mit der "Cash Crop"-Produktion. Bei der Selbstversorgung mit Lebensmitteln liegt Kamerun weit unterhalb seiner Möglichkeiten. Die bäuerliche Landwirtschaft wurde lange vernachlässigt.

Kamerun: Die Armut hat ein weibliches Gesicht

„Die Armut ist in Kamerun weit verbreitet und trifft vor allem die Familien, die von der Landwirtschaft leben. Aber die Armut hat vor allen Dingen ein weibliches Gesicht. Seit einigen Jahren beobachten wir eine regelrechte Feminisierung der Armut: 70 Prozent der Kameruner, die in der Landwirtschaft oder im informellen Sektor arbeiten, sind Frauen. Sie betreiben zum Beispiel kleine Garküchen, verkaufen am Straßenrand Gemüse und Obst. Der Verdienst in diesen Beschäftigungsfeldern ist gering. Doch da viele Frauen keinen Schulabschluss und keine Berufsausbildung haben, gibt es für sie meist keine anderen Arbeitsmöglichkeiten. Generell sind die Frauen in Kamerun weniger gebildet und weniger in traditionellen, politischen oder religiösen Entscheidungsgremien vertreten. Sie sind gefangen in einer Spirale der Armut und haben zu wenige Möglichkeiten, sich daraus zu befreien. In traditionell geprägten ländlichen Regionen können die Frauen zum Beispiel kein Land erwerben und sind nicht erbberechtigt. Die meisten Frauen sind noch weit davon entfernt, über die gleichen Rechte, die gleichen Entfaltungsmöglichkeiten verfügen zu können wie die Männer.“[2]

Migration als natürliche Bewegung

„Für uns ist Migration einfach eine natürliche Bewegung. (…) Man sieht sich um, versucht sich anzupassen, zieht gegebenenfalls weiter. Für Afrikaner ist das ein integraler Bestandteil des Lebens. Sie sind es gewöhnt, dass Menschen aus Nachbarländern bei ihnen leben, seien es sudanesische Kriegsflüchtlinge in Uganda oder Mosambikaner in Malawi. Es ist eine Erfahrung, die fast jeder Afrikaner kennt, zu der jeder eine Beziehung hat. Wir begreifen diese Bewegungen als natürliche Reaktionen auf zeitlich begrenzte Krisen. (…) Migration ist ein natürliches Phänomen. Diese Massenbewegungen sind es nicht.  (…) Die wirtschaftliche Situation ist im Vergleich weniger bedeutend. Wer sein Land aus wirtschaftlichen Gründen verlässt, versucht es in der Regel im Nachbarland. (…) Ein Großteil der migrierenden Afrikaner – weit über die Hälfte – geht nicht nach Europa, sondern in andere Regionen ihres Landes oder ins Nachbarland. Erst wenn sie auch dort keine besseren Bedingungen finden, zieh-en sie weiter nach Europa.“[3]
„Die meisten Menschen auf der Flucht leben nicht in Europa, sondern in Entwicklungsländern. Laut Zahlen des UNHCR gilt das 2017 für 85 Prozent aller Flüchtlinge. Ein Großteil davon lebt in afrikanischen Ländern, doch das wird häufig übersehen. Genau wie die zahlreichen Konflikte und Menschenrechtsverletzungen in Afrika, die in der weltweiten Medienöffentlichkeit nur wenig Beachtung finden.“

Illegale Migration nach Europa

Beispiel Spanien

„Bei illegalen Immigranten gilt es zu unterscheiden zwischen jenen, die als Asylbewerber in die EU gekommen sind und nach Ablehnung ihres Schutzantrags von der Bildfläche verschwinden, und denen, die von Anfang an das Asylsystem vermeiden und in die Illegalität abtauchen. Hier geht es vor allem um die zweite Gruppe, um die Unsichtbaren. Denn sie werden von Jahr zu Jahr mehr und sind von keiner Statistik erfasst. Zahlreiche Experten sind sich einig, dass die heimliche Migration in die EU, also die Einwanderung außerhalb der Asylsysteme und offiziellen Flüchtlingsstatistiken, rasant zunimmt. Vor allem in Spanien, wo derzeit ein Großteil der Flüchtlinge und Migranten anlandet, taucht eine wachsende Zahl von ihnen gleich nach der Ankunft unter. Fast zwei Drittel der Migranten, die 2018 in Spanien anlandeten, stellten keinen Asylantrag." (https://headtopics.com/de/illegale-migration-die-unsichtbaren-5134721)

Didaktische Überlegungen

Der Film eignet sich sowohl für die Sekundarstufe II (Fächer: Sozialkunde, Politik, Wirtschaftsgeographie, Religion/Ethik), für Fachschulen der Sozialpädagogik und auch die Erwachsenbildung – hier insbesondere für die Vorbereitung von Menschen, die in der Flüchtlingsarbeit tätig sind oder sich darauf vorbereiten möchten.

Alterseignung: ab 15 Jahren.

Vorschläge für das Filmgespräch

Fragen zum Film und seinen Protagonisten

  • Hat Ihnen der Film gefallen - oder nicht gefallen? Begründen Sie Ihre Meinung. Was ist Ihnen aufgefallen? Trägt „Yves‘ Versprechen“ dazu bei, ein differenziertes Bild über Migration aus Afrika zu vermitteln? Schreiben Sie eine kurze Filmkritik als persönlichen Blog-Beitrag.
  • Im Vorspann des Films diskutieren junge Leute aus Kamerun, die in Marokko festsitzen, über die Frage, ob sie zurück nach Kamerun gehen können oder nach Europa migrieren müssen. Welche Argumente tauschen die Jugendlichen aus? Organisieren Sie in zwei Gruppen am Beispiel von Yves und seiner Familie das Pro und Contra von Migration nach Europa, benennen Sie zwei Vertreter aus Ihren Gruppen, die die jeweilige Position auf einem moderierten Podium zur Sprache bringen und zur Diskussion stellen.
  • Recherchieren Sie, welches Bild von MigrantInnen und Flüchtenden aus Afrika in unseren Medien verbreitet wird. Tragen Sie ihre Ergebnisse in Kleingruppen zusammen und überlegen Sie gemeinsam, welche Fragen Sie MigrantInnen in Ihrem Alter stellen würden, wenn Sie die Chance dazu hätten, Menschen aus afrikanischen Ländern direkt nach deren Biografie zu befragen.
  • Migrantinnen und Migranten aus afrikanischen Ländern, die nach Europa kommen, sind einer Studie zufolge häufig gut ausgebildet. Das trifft auch auf Yves zu. Wie lässt sich das erklären? Welche Folgen hat das für die Herkunftsländer? Was macht seine spezielle Situation aus?
  • „Ich war erschüttert, dass er sich dieser Todesgefahr mit dem Schlauchboot übers Meer nochmal aussetzten wollte. Er hatte bereits den Geschmack Europas gekostet und er wusste, dass ihm dieser Weg des Asyls sehr wahrscheinlich nicht zu Verfügung stehen wird. Aber all dies war besser als in Kamerun einen Neuanfang zu wagen“, so die Filmemacherin in einem Gespräch. Was hindert Yves daran, in Kamerun ein besseres Leben aufzubauen?  Bereiten Sie in einer Kleingruppen Fragen für ein Interview mit Yves vor? Was ist im Film unklar geblieben? Was würde Sie über den Film hinaus interessieren?
  • Die Fluchtwege von Afrika nach Europa sind schwierig und gefährlich. Die Überfahrt übers Mittelmeer ist nur ein Weg.  Welche Aussagen macht der Film dazu? Zeichnen Sie die Migrationsroute von Douala nach Spanien nach. Informieren Sie sich, auf welchen Routen MigrantInnen aus West- und Zentral-afrika nach Europa gelangen.
  • Yves steht unter großem sozialen Druck. Er hat ein Versprechen gegeben. Erzählen Sie die Geschichte von Yves weiter. Wird er sein Versprechen erfüllen können und zurückkehren?

Fragen zu Kamerun

  • Welche Informationen liefert der Film über Kameruns Ökonomie? Wie beurteilen Sie   vor diesem Hintergrund die wirtschaftliche Situation der Familie? Kamerun ist ein großes Land, reich an Rohstoffen. Doch das derzeitige Wirtschaftswachstum reicht nicht aus, um Arbeitsplätze in größerem Umfang zu schaffen und die Armutsrate von circa 30 Prozent nachhaltig zu senken. Informieren Sie sich über Ursachen der wirtschaftlichen Misere und diskutieren Sie äußere und innere Faktoren für diese Fortschrittsbremse.
  • Was bedeutet der Begriff „informeller Sektor“? Wie grenzt er sich gegenüber dem formellen Wirtschaftssektor Kameruns ab? Wie verdienen die Familienangehörigen im Film ihr Geld? Welches Frauenbild vermittelt der Film?

Zum Themenkomplex Migration

  • Wie erklären Sie sich, dass Migration in der öffentlichen Wahrnehmung als Einbahnstraße von Afrika nach Europa gesehen wird und sich Europa folglich vor der „Flut der Migranten“ abschotten müsse. Machen Sie einen Fakten-check und zeichnen Sie auf einer Karte mit den Umrissen Afrikas die Binnenmigration auf dem Kontinent ein.
  • 91.000 Migranten sind nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) im Jahr 2019 nach Europa eingereist. Das sind zwar deutlich weniger als in den Vorjahren, doch trotzdem starben allein dieses Jahr mehr als 1000 Menschen bei der gefährlichen Überfahrt im Mittelmeer. Doch wer sind diese Menschen, die alles riskieren, um nach Europa zu kommen und warum tun sie das? Welche Antworten gibt der Film auf diese Fragen? Welche Aussagen macht der Film zu Yves‘ Leben in Spanien? Wie deuten Sie den Untertitel „… Oder warum es kein Zurück gibt?“

Links und Literaturhinweise:

  • Melanie Gärtner: Grenzen am Horizont. Drei Menschen. Drei Geschichten. Drei Wege nach Europa. Brandes & Apsel (Frankfurt) 2015
  • Asfa-Wossen Asserate: „Die neue Völkerwanderung. Wer Europa bewahren will, muss Afrika retten, Propyläen Verlag, Berlin 2016
  • Karim El-Gawhary, Mathilde Schwabeneder: Auf der Flucht: Reportagen von beiden Seiten des Mittelmeers, Verlag Kremayr & Scheriau 2015
  • Jan-Phillip Scholz, Menschenhandel, Migrationsbusiness und moderne Sklaverei, Verlag Brandes & Apsel, 2019
  • http://www.bpb.de/lernen/themen-im-unterricht/212843/flucht-und-asyl
  • http://www.deutschlandfunk.de/afrikanische-fluechtlinge-europa-und-die-neue.1310.de.html?dram:article_id=370676
    Bericht Deutschlandfunk online über afrikanische Flüchtlinge in Europa
  • https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/fluechtlinge/zahlen-fakten.html
    Website der UNO-Flüchtlingshilfe
  • https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/kamerun-node/wirtschaft/208876
  • https://www.initiative-perspektivwechsel.org/projekte/ressourcenungerechtigkeit/
  • https://www.ilo.org/berlin/presseinformationen/WCMS_627629/lang--de/index.htm
  • https://www.brot-fuer-die-welt.de/fileadmin/mediapool/20_Unsere-Themen/Fluechtlingsdossier/FP-Migration-Binnen-de-10-2017-v02.pdf
  • https://www.nzz.ch/international/migration-aus-afrika-acht-antworten-ld.1410975

Filmhinweise:

Im Land Dazwischen
Regie: Melanie Gärtner
Deutschland 2012, Dokumentarfilm, 35 Min. (Kurzfassung), OmU
Der Film ist Teil der Themen-DVD „Fremd ist der Fremde nur in der Fremde“ – Filme zum Thema Migration
Bezug DVD: EZEF

Life Saaraba Illegal
Regie: Peter Heller, Saliou Sarr und Bernhard Rübe
Deutschland 2015, Dokumentarfilm, 90 Min., OmU
Bezug DVD: EZEF

Die Piroge (La pirogue)
Regie: Moussa Touré
Frankreich, Senegal 2012, Spielfilm, 87 Min., OmU
Bezug DVD: EZEF

Ferien in der Heimat (Vacances au pays)
Regie: Jean-Marie Teno
Deutschland, Frankreich, Kamerun 2000, Dokumentarfilm, 75 Min., OmU
Bezug DVD: EZEF

Autorin: Cornelia Wilß
Redaktion: Bernd Wolpert
02/2020

[1] Das Länderinformationsportal von Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) bietet einen guten Überblick über Geschichte und Staat, Wirtschaft und Entwicklung, Gesellschaft und Alltag Kameruns: https://www.liportal.de/kamerun

[2] Marthe Wandou, Direktorin der MISEREOR-Partnerorganisation ALDEPA, Kamerun;  https://blog.misereor.de/2017/11/16/kamerun-die-armut-hat-ein-weibliches-gesicht/

[3] Eric Chinje, 1954 in Kamerun geboren, ist Vorstandsmitglied der African Media Initiative, einem panafrikani-schen Zusammenschluss von mehreren Tausend Journalistinnen und Journalisten und Verlegern mit Sitz in Nairobi. www.zeit.de/politik/ausland/2019-09/eric-chinje-migration-fluechtlinge-mittelmeer-solidaritaet-afrika